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Gülpinar Günes

Multimedia Journalistin

  • Gülpinar Günes

Mein Grossvater, der Gastarbeiter: Wer war der Mann, der aus der Türkei in die Klus auswanderte?


Das ist mein Grossvater auf einer Brücke über der A1 bei Oensingen. Es ist etwa das Jahr 1965. Wer das Foto gemacht hat, ist nicht bekannt. (Bild: Unbekannt/Privatfotos)


Oensingen, 1965. Auf einer Brücke über der A1 posiert ein junger Mann für ein Foto: Er trägt ein dunkles Jackett, ein weisses Hemd, eine weinrote Krawatte und graue Stoffhosen. Er schaut ernst und entschieden in die Weite, fast schon stolz, dass er über der A1 posieren darf. Einer Autostrasse, die erst seit drei Jahren das damals ruhige Gäu durchquert und schweizweit Menschen und die wachsende Industrie verbindet. Auch der Mann auf dem Foto hat dazumal eine Brücke zwischen zwei Welten geschlagen: den ärmlichen Verhältnissen in der Türkei und dem florierenden Werk der Von Roll in der Klus bei Balsthal.


Der Mann auf dem Foto ist mein Grossvater. Ihm verdanke ich, dass ich heute auf einem bequemen Bürostuhl sitzend Texte wie diesen schreiben und davon leben kann. Doch ich habe ihn kaum gekannt, den Mann, der alles hinter sich liess, um in der Schweiz eine bessere Zukunft für seine Familie zu suchen. Er starb, als ich acht Jahre alt war und noch gar nicht verstehen konnte, warum gerade wir hier sind und andere Verwandte nicht. Ich erinnere mich nur noch dank alter VHS-Aufnahmen meines Vaters an ihn, an seine Stimme, sein ruhiges Wesen oder daran, wie er mich als Neugeborenes in seinen Armen hält. Also habe ich mich auf eine Spurensuche begeben, um den Mann näher kennen zu lernen, dem ich so viel zu verdanken habe.


Einmal quer durch Europa für ein neues Glück


1965 bricht er auf zu einer Reise quer durch Europa. Ein Durcheinander an verblassten Stempeln in seinem alten Pass verrät mir, welchen Weg er gekommen sein muss: Mit dem Zug fährt er über Bulgarien durch das ehemalige Jugoslawien und gelangt schliesslich über Österreich in die Schweiz. Am 12. Juli 1965 nimmt zuerst die Passkontrolle in Buchs seine Ankunft zur Kenntnis, danach muss er wohl noch durch den Polizeiposten und die damalige Fremdenkontrolle in Oensingen, bevor er sein neues Leben als Putzer in der Giesserei der Von Roll beginnen darf.


Nebst Grossvaters Pass zeugen nur noch einige alte Fotos von seiner Anfangszeit im schweizweit bekannten Eisenwerk. Auf einem dieser Fotos, das ich einmal in meinen Ferien in der Türkei zwischen alten Familienfotos entdeckt und mitgebracht habe, sitzt er mit zwei anderen türkischen «Gastarbeitern», wie die Arbeitsmigranten damals genannt wurden, an einem kleinen Tisch in einer Baracke, schöpft sich Essen. Auf dem Tisch: Schweizer Salz und eine Flasche Henniez. Mein Grossvater lächelt.


Gemeinsam mit anderen türkischen Arbeitern wohnte mein Grossvater (Mitte) eine Zeit lang in einer Baracke in der Klus bei Balsthal. (Bild: Unbekannt/Privatfotos)


Ist er glücklich bei der Von Roll? Wie gross ist das Heimweh nach seiner Familie und der Türkei? Schliesslich hat der damals 32-jährige Mann eine Frau und fünf Kinder zurückgelassen – das jüngste von ihnen ist gerade mal drei Jahre alt.

Dieses Kind ist mein Vater. Mit ihm spreche ich zuerst.


Ein hartes, aber ehrliches Leben als Hirte


Wir sitzen in unserem Wohnzimmer in einer Gäuer Gemeinde. Mein Vater beginnt zu erzählen. Er schöpft aus seinen eigenen Erinnerungen und aus Erzählungen meiner Grosseltern. Immer wieder bin ich überrascht darüber, wie wenig ich bisher über meinen Grossvater und unsere Familiengeschichte gewusst habe.


Mein Grossvater kommt 1931 in einem kleinen Bergdorf in Thrakien im Westen der Türkei als Sohn eines Bauern zur Welt. Die Türkische Republik ist damals erst acht Jahre alt und ein harter Unabhängigkeitskrieg liegt hinter dem Land, das nun durch Reformen umgewälzt wird. In dieser turbulenten Zeit wächst mein Grossvater in einem bescheidenen Steinhaus mit zwei Geschwistern, ihren Eltern und dem Vieh auf. Sie leben mehrheitlich als Selbstversorger, können hier und da etwas selbst geköhlerte Kohle verkaufen. Doch das reicht nur für das Nötigste. An den Füssen etwa sollen sie lediglich ein Paar handgemachte Lederschuhe und dicke Wollsocken getragen haben, erzählt mein Vater. Mit diesen dünnen Schuhen sei mein Grossvater dann auch als Hirte durch die Gegend gezogen, bei Sonne, Regen und Schnee.


Eine Schule besucht er nie. Als sein Vater mit 40 Jahren verstirbt, muss mein Grossvater noch mehr Verantwortung übernehmen. Als Jugendlicher hütet er daher bereits die Tiere der Familie und ist als erwachsener Mann in den 1950er-Jahren ein geschätzter Hirte in der Gegend. Viele harte Winter hat er mit den Tieren draussen verbracht. Aber er hat wohl auch einige schöne Sommer erlebt, etwa jenen, in dem er meine Grossmutter kennen lernte. Beide hüten damals ihre eigenen Tiere.


«Deine Grossmutter ist ziemlich verwöhnt gewesen», erzählt mir mein Vater lachend. Das habe ich gewusst. Aber dass sie im Gegensatz zu meinem Grossvater aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammte, ist mir neu. Sie sei damals sogar einem anderen Bauern versprochen gewesen. Doch so verliebt wie mein Grossvater und sie waren, sei sie dann kurzerhand zu ihm geflüchtet. 1952 heiraten sie und in den Jahren darauf kommen meine Onkel und schliesslich auch mein Vater zur Welt. Das ist im Jahr 1962 – drei Jahre bevor mein Grossvater in die Schweiz kommt.


Ab ins Ungewisse für eine bessere Zukunft


Was bewegt einen Menschen dazu, seine Frau und fünf Kinder in unsicheren Verhältnissen zurückzulassen und in ein fremdes Land zu ziehen? Ich frage den Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser. Er ist einer der wenigen Forscher hierzulande, die sich mit der Beziehung zwischen der Schweiz und der Türkei auseinandersetzen. Wir tauschen uns über Video aus.

«Die Türkei bewegte sich damals von einer wirtschaftlichen Krise in die andere», sagt er. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg habe sich das Land kaum erholen können. Die soziale Unzufriedenheit sei gewachsen. Kieser weiter:

«Viele Leute nagten fast am Hungertuch und konnten sich für ihre Kinder keine Zukunft vorstellen.»

Aus diesem Grund sei die Migrationsbereitschaft in der Türkei gestiegen. Vor allem im Westen zieht es arbeitstüchtige Männer in die Städte, später suchen sie ihr Glück im Ausland. Im Jahr 1961 vereinbart die Türkei mit Deutschland ein sogenanntes Anwerbeabkommen. Es erleichterte Türken, sich für eine Stelle in Deutschland zu bewerben.


Das ist auch im Interesse der Türkei: Einerseits, weil viele Arbeitslose so eine Arbeit finden. Andererseits aber auch, weil sie stabile Devisen und viel neues Wissen ins Land zurückbringen sollen. Diese Migrationswelle in den 60er-Jahren ist die erste Richtung Europa. Wegen Unruhen im Osten des Landes folgen in den kommenden Jahrzehnten zwei weitere Wellen.


Istanbul im Jahr 1959. (Bild: ETH Archiv/Jack Metzger)


Auch mein Grossvater soll sich in den 60ern in der Liste für Deutschland eingetragen haben, erzählt mein Vater. Über seinen Bekanntenkreis aber nimmt er schliesslich Kontakt zu einem Freund in der Schweiz auf, der bei der Von Roll Klus arbeitet. Dieser kann ihn vermitteln und so kommt mein Grossvater zu seiner Stelle in einem der grossen Eisenwerkzentren der Schweiz. Damit gehörte er zu den 4841 Türkinnen und Türken, die laut der Statistik des Staatssekretariats für Migration im Jahr 1965 in der Schweiz leben.


Die Angst vor dem Unbekannten in der Schweiz


Gegen seine Abreise aber gab es Widerstand. Als meine Eltern im Sommer 2021 in die Türkei reisen, kann ich mit meiner Grosstante sprechen, der jüngeren Schwester meines Grossvaters. Ich kenne sie zu diesem Zeitpunkt kaum und mir ist gar nicht bewusst, dass mein Grossvater Geschwister hat, die heute noch leben. Ich rede mit meiner Grosstante via Videochat. Meine Eltern, die bei ihr vor Ort sind, helfen mir, mein gebrochenes Türkisch zu übersetzen.


«Wir wollten nicht, dass er geht», erinnert meine Grosstante sich. Ihr Bruder habe keine richtigen Kleider oder Schuhe gehabt, als er sich auf den Weg machte, erzählt sie. Die ganze Familie sei besorgt gewesen, dass ihn die Fremden töten würden. Sie rechtfertigt die Angst:


«Wir hatten damals keinerlei Fotos oder Wissen von der Schweiz.»

Mein Grossvater aber habe sich auf die Reise gefreut. «Er wäre nicht gegangen, wenn auch er Angst gehabt hätte.» Sie lacht. Vielleicht aber, so glaube ich, war er auch einfach stolz, der Erste der Familie zu sein, der sich ins Ausland wagte.


Die Zeit nach seiner Abreise ist wohl für beide Seiten sehr spannend: In der Türkei warten Familie und Freunde sehnsüchtig auf Nachrichten. In der Schweiz muss sich der frischgebackene Gastarbeiter mit dem Kulturschock und der neuen Arbeit zurechtfinden. Immer wieder schickt er Briefe in die Heimat. Sie geben Einblick in sein neues Leben. «Wir rannten voller Freude zum Pöstler, wenn er ins Dorf kam», erinnert sich etwa mein Vater mit einem Strahlen im Gesicht. Sein ältester Bruder habe dann jeweils die Briefe vorgelesen.


Oft habe mein Grossvater nach dem Wohlergehen der Kinder gefragt und Fotos von sich in der Klus geschickt, selbstverständlich ist er auf ihnen immer schick angezogen. «Damit wir wussten, dass es ihm im fremden Land gut geht.» Und wenn er dann einmal im Jahr in die Heimat zurückkehrte, sei das eine Sensation für das ganze Dorf gewesen, erzählt mein Vater. Er habe jeweils ein Aufnahmegerät mitgebracht, um die Stimmen seiner Kinder und seiner Frau mit in die Schweiz nehmen zu können – ein Stück Heimat und Geborgenheit in der fremden Welt.


Die Arbeit bei der Von Roll: Chance und Verhängnis



Denn in der Klus war das Leben wohl alles andere als einfach. Als Gussputzer in der Giesserei musste mein Grossvater Schichtarbeit leisten und in schwierigen Verhältnissen arbeiten, wie mir der ehemalige Direktor des Hydraulik-Bereichs der Von Roll Klus, Frédéric Flückiger, erzählt. Er lebt bis heute in Balsthal und nimmt sich gemeinsam mit dem ehemaligen Produktionsleiter Hubert Baumgartner für mich und meine Fragen Zeit.


Die Putzer müssen nach dem Giessen die abgekühlten Gussmodelle säubern, schleifen und fräsen. Damit machen sie viel Lärm und setzen Feinstaub frei, den sie dann einatmen, wie ich erfahre. Baumgartner erinnert sich:

«Wenn sie die Nase schnäuzten, war das Nasentuch schwarz.»

Man habe die Arbeiter oft aufgefordert, Gehörschutz und Masken zu tragen. Doch es sei ihnen unangenehm gewesen, weil sie darunter schwitzten. «Sie haben gar nicht realisiert, wie sehr sie so ihrem Körper schaden», so Baumgartner. «Was noch schlimmer ist: Viele haben zusätzlich geraucht.»


Man habe die Arbeiter oft aufgefordert, Gehörschutz und Masken zu tragen. Doch es sei ihnen unangenehm gewesen, weil sie darunter schwitzten. «Sie haben gar nicht realisiert, wie sehr sie so ihrem Körper schaden», so Baumgartner. «Was noch schlimmer ist: Viele haben zusätzlich geraucht.»


Die Von Roll Giesserei in Choindez, 1978. Die Luft in den Hallen der Giessereien war oft trüb. (Bild: ETH Archiv/Hanspeter Bärtschi)


Auch mein Grossvater hat geraucht. Noch vor dem Pensionsalter aber begann er an Lungenproblemen zu leiden. Die sogenannte «Staublunge» war verbreitet unter den Putzern. Ich erinnere mich noch, wie mein Grossvater jeweils neben uns am Tisch sass und Medikamente inhalierte. Wir Kinder machten oft Witze darüber, dass er sich beim Inhalieren so anhörte wie die Figur Darth Vader im Film «Star Wars».


Wie andere Putzer vor und nach ihm musste schliesslich auch mein Grossvater auf dem Allerheiligenberg kuren gehen – ein bekannter Kurort unter «Von Rollern», wie ich im Gespräch mit Flückiger und Baumgartner erfahre. Gerne hätte ich auch mit einem ehemaligen Arbeitskollegen meines Grossvaters gesprochen. Leider finde ich keinen, der heute noch lebt.


Zu Hause in der Klus, bei den Arbeitern


Was die Arbeit körperlich von ihnen fordert, kompensieren die Arbeiter durch das Beisammensein nach dem Feierabend. «Die Gastarbeiter belebten die Klus sehr», weiss Baumgartner noch, der praktisch auf dem Gelände aufwuchs. Von den insgesamt rund 2700 Mitarbeitern der Von Roll Klus waren rund 800 aus dem Ausland. Die meisten kamen aus Italien, dann folgten Türken und Spanier.


Die ausländischen Arbeiter waren nötig, weil sie bereit waren, die schweren Schichtarbeiten zu übernehmen. Flückiger erinnert sich:

«Es wurde im Dorf ab und zu die Nase gerümpft, wenn es um die Gastarbeiter ging.»

«Das führte dazu, dass sie vor allem rund um das Fabrikgelände in der Klus verkehrten – das war ihr Quartier.» In ihren Baracken unter ihresgleichen fühlten sie sich zu Hause.


Nach Feierabend haben sich die Arbeiter oft in den umliegenden Gasthöfen getroffen, gejasst, unterhalten und ausgetauscht, erzählen Flückiger und Baumgartner. Die Sehnsucht nach der Heimat und das geteilte Schicksal schweisste die Arbeiter zusammen. Alle hatten sie die Hoffnung, Geld sparen und wieder nach Hause zurückkehren zu können. Doch wie im Fall meines Grossvaters wurden aus einigen Jahren ein Vierteljahrhundert Einsatz für die Von Roll Klus. Die Arbeiter verteilten sich allmählich auf die Unternehmens-Wohnungen in Oensingen und Balsthal.


Die Klus im Jahr 1968 und heute. / Der Eingang der Von Roll Klus im Jahr 1987 und im Jahr 2021 (Bilder: ETH Bildarchiv/Comet Photo AG/Gülpinar Günes)


Auch mein Grossvater besorgte sich zu Beginn der 70er-Jahre eine eigene Wohnung, um seine mittlerweile siebenköpfige Familie bei sich in der Schweiz unterzubringen. 1972 war es dann so weit.


In der Schweiz kräht der Hahn auch nicht anders


Ich stehe mit meinem Vater vor dieser ehemaligen Wohnung an der Thalbrücke in Balsthal. Gedankenverloren schaut er sich das Gebäude an, das sich seit jener Zeit kaum verändert hat. Er war knapp zehn Jahre alt, als der grosse Umbruch in seinem Leben kam. Immer wieder kommen ihm alte Erinnerungen aus seiner Kindheit hoch, während wir durch Oensingen und Balsthal fahren. Ein Moment sei ihm besonders in Erinnerung geblieben, sagt er. Als er einmal auf einem Bauernhof einen Hahn krähen hörte, sagte er zu seinem Vater: «Die krähen hier ja genauso wie in der Türkei.»


In diesem Haus an der Thalbrücke in Balsthal wohnte mein Vater gemeinsam mit seinen Geschwistern und Eltern zu Beginn der 70er-Jahre. (Bild: Gülpinar Günes)


Wir steigen hinauf zu einer Aussichtsplattform oberhalb des Schlosses Alt-Falkenstein in Balsthal. Von hier aus sehen wir das ganze ehemalige Areal der Von Roll: Dort unten fing ein neues Leben an für uns, dort unten in einer Baracke sass mein Grossvater mit seinen Arbeitskollegen an einem Esstisch, trank Henniez und war wohl stolz und dankbar, hier sein Geld für seine Familie verdienen zu dürfen. Auch wenn das Heimweh schmerzte. Er hatte sein Ziel erreicht: Eine Zukunft für seine Kinder aufbauen. Auch wenn er wegen seiner Erkrankung den Ruhestand nicht mehr richtig geniessen konnte – Grossvater habe die Entscheidung nie bereut, sagt mein Vater.


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