Text & Videos: Gülpinar Günes
Fotos: Alex Spichale
Es gibt Menschen, die sind beim Anblick einer grossen weissen Leinwand überfordert. Wo beginnt man und wie kann man diese gähnende Leere füllen? Dann gibt es Menschen wie Esther, Roman und Benno, die es kaum erwarten können, sich auf diese Leinwand zu stürzen, sie zu gestalten und mit Leben zu füllen – ganz nach ihrem Geschmack und halt gerade so, wie es ihnen passt.
Die Leinwand ist Sinnbild für das Zuhause, das sich die drei ausgesucht haben – drei Menschen, die wohl unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch sie vereint die ehemalige Zigarrenfabrik in Gontenschwil, wo sie sich eingenistet haben: Esther bereits seit 23 Jahren, Roman seit sieben Jahren und Benno stiess vor gut einem halben Jahr dazu.
Sie wohnen jeweils in einem der elf Loftwohnungen, die vor rund 24 Jahren in den historischen Fabrikhallen entstanden sind: weite, lichtdurchflutete Räume, leer und dennoch so aufregend wie eine weisse Leinwand.
Loft als Lebensmittelpunkt
Ähnlich einem Spiegelbild seiner Mieter findet man sich in jedem Loft in einer komplett anderen Welt wieder – jede mit einem anderen Lebensmittelpunkt. Bei Esther Roth ist das ihr Flügel: Das Instrument thront mitten in der Wohnung der 69-jährigen Komponistin. Ohne ihn könne sie sich kein Wohnen vorstellen.
«Für mich ist es ganz klar: Leben und Arbeiten müssen eins sein – ich muss dort schlafen können, wo mein Flügel ist.»
Im Zentrum des Ateliers der Musikerin und Komponistin Esther Roth befindet sich ihr Flügel. Ohne den könne sie sich kein Wohnen vorstellen.
Für sie ist das Loftleben mehr als nur Lifestyle: Bereits bevor sie mit ihrem Ehemann Thomas Knuchel vor 23 Jahren in die Zigarrenfabrik gezogen ist, lebte sie in der ehemaligen Papiermühle in Küttigen ebenfalls in einem Loft.
Heute in Gontenschwil teilt sich das Paar sogar zwei Stockwerke: unten die Wohnung des Partners und oben ihr Atelier, das sie relativ schlicht eingerichtet hat. Hohe Bücherregale zieren die Wände, wo sie zwischen den Fensterreihen vorhanden sind, hier und da hängen alte Familienfotos und selber gezeichnete Porträts, wie sie in einem Rundgang erzählt:
«Auch nach 23 Jahren finden wir die Wohnform ideal», sagt Esther. «Es herrscht eine Atmosphäre, in der man sich gegenseitig respektiert.» Eine Wohnung im «Kaninchenstallsystem von Wohnblöcken» habe sie sich noch nie vorstellen können. «Schon nur, weil da kein Flügel reinpasst.» Sie lacht.
Alte Fabriken als neue Wohnform
Als sie 1998 einziehen, ist die Zigarrenfabrik noch eine Baustelle. Der Eigentümer Thomas Hausmann höchstpersönlich kümmert sich um den Umbau der Lofts, die davor noch so aussahen:
So sah die Zigarrenfabrik vor dem Umbau ab 1996 aus, als sie Thomas Hausmann gemeinsam mit zwei Freunden gekauft hat. Quelle: zvg
«Normale Wohnungen gibt es genug: Wir wollten ungewöhnliches Wohnen anbieten und Leute suchen, die das leben wollen», erläutert Hausmann die Idee dahinter.
Mit zwei Freunden kauft er sich 1996 unter anderen Fabriken auch die ehemalige Zigarrenfabrik in Gontenschwil und baut diese bis 1999 in elf Wohnungen um. Viel verändern die Freunde allerdings nicht: Sie isolieren lediglich und bauen Nasszellen ein. «Wir wollten den Fabrikgroove nicht zerstören.» Und damit auch nicht das «normale» Wohnungsklientel ansprechen.
Ihr Ziel: Wohnen und Arbeiten im gleichen Raum ermöglichen. Ganz im ursprünglichen Gedanken der sogenannten «Lofts»: Die Idee dazu stammt aus Städten wie New York oder London, wo man in den 1940er-Jahren leerstehende Lager- und Fabrikhallen in Wohnungen umnutzte. Ein bekannter Vertreter dieser damals neuartigen Wohnform war etwa Künstler Andy Warhol.
Loft als Wohlfühloase
Heute noch ziehen Lofts Menschen an, die Wohnen und Arbeiten vereinen wollen. Wie Esther suchte auch Musiker und Künstler Benno Blattmann einen Ort, wo er sein Atelier haben und gleichzeitig wohnen konnte.
«Über drei Ecken haben mir Freunde empfohlen, mich bei Thomas Hausmann zu melden», erzählt der 54-Jährige, der kürzlich einige schwierige Wendungen im Leben überwinden musste. Schliesslich habe er mit Thomas Hausmann Kontakt aufgenommen und so zu seinem neuen Zuhause in Gontenschwil gefunden. Nach gut einem halben Jahr in der Loftwohnung sagt er:
«Ich fühle mich einfach wohl hier.»
Das Zentrum von Musiker und Künstler Benno Blattmans Loft bilden seine Staffeleien und sein Schlagzeug.
Das Zentrum seiner Wohnung bilden zwei Staffeleien und ein Schlagzeug, die direkt an die Küche anschliessen – ein Wohlfühlbereich, den Benno mit viel Liebe zum Detail eingerichtet hat. Was er sich dabei überlegt hat, erzählt er gleich selber in einem Rundgang:
Aufgewachsen ist der Künstler in Oberägeri im Kanton Zug und lebte vor seinem Umzug nach Gontenschwil in Birrwil. Der Umzug sei mehr aus der Situation heraus entstanden, sagt er rückblickend auf die letzten paar Jahre. Hier in der Zigarrenfabrik aber habe er Ruhe gefunden. «Ich bin einfach da und geniesse den Moment.»
Loft als Identifikationspunkt
Wer in der Zigarrenfabrik wohnt, der sucht Ruhe, Individualität und Freiheit. Einfach nur wohnen ist nicht genug – auch für Roman Lang nicht. «Ich habe diese Art von Wohnen gesucht», sagt der 55-jährige Sozialpädagoge.
«Es entspricht meiner Art.»
Seine Wohnung ist die luftigste von allen dreien, hat viel Platz und Tageslicht. Im Zentrum stehen mit dem grossen Esstisch und der Sitzecke Gemütlichkeit und Genuss.
Roman Lang wohnt seit sieben Jahren in der Zigarrenfabrik und rückt Gemütlichkeit und Einfachheit in den Vordergrund.
Schon bevor Roman in die Zigarrenfabrik gezogen ist, bevorzugte er Wohnungen mit Charakter und Geschichte, wie er erzählt. Damals lebte er in einer Altbauwohnung in Luzern. Mit der Zeit jedoch habe er mehr Raum gebraucht und hier habe es einfach gepasst. «Ich könnte nicht mehr in einer anderen Wohnung leben», sagt er im Nachhinein. Die Fabrik sei zu seinem Rückzugsort geworden, an die er gerne nach langen Arbeitstagen zurückkehrt.
Doch nicht jeder eigne sich für das Leben in Lofts. So romantisch der Gedanke daran auch sein mag: «Wenn man den Anspruch hat, irgendwo einzuziehen, wo alles bereits installiert und gemacht ist, ist man hier falsch», sagt Roman lachend. Er mähe hin und wieder selber das Gras vor der Fabrik und wische den Platz. Auch Stromleitungen und die Küche habe er seinen Bedürfnissen anpassen müssen, wie er in einem Rundgang erzählt:
Wo ist der Haken?
Bei so viel Platz und Freiheiten könnte man meinen, dass die Mietzinse unbezahlbar sind. Doch die sind deutlich tiefer, als man denkt, wie auch Thomas Hausmann bestätigt. «Der Mietzins ist marktgerecht, wenn nicht sogar günstig», sagt er auf Nachfrage.
Wo ist dann der Haken? Den einzigen Nachteil sehen die drei Mieter im schlechten ÖV-Anschluss der Fabrik. «Ich weiss nicht, was ich im Alter machen soll – jetzt kann ich noch Auto fahren», macht sich etwa Esther bereits Sorgen. Aber sie sieht auch die positive Seite des schlechten Anschlusses: «Es zieht gleichzeitig genau diese Leute an, die auch wirklich hier wohnen wollen.» Also genau solche Leute, die Freude an einer leeren, weissen Leinwand haben.
Comments