- Gülpinar Günes
«Es schmerzt im Innersten» – Präsident der SAC Weissenstein über Leidenschaft und Gletscherschwund
Leidenschaft, Heimat, Gletscherschwund: Ueli Kölliker, Richter, Politiker und Bergführer, ist seit 58 Jahren Mitglied bei der SAC Sektion Weissenstein und sechs davon Präsident des Vereins.

Sind Sie ein Romantiker, Herr Kölliker?
Ueli Kölliker: Ja. Die Natur in den Bergen bedeutet mir so viel, dass ich sehr gerne Zeit darin verbringe. Im Alter wird man ohnehin etwas romantischer. Man trägt die Träume, die man früher leben durfte, schon etwas wehmütig in sich.
Woran denken Sie da?
Man träumte davon, in den Bergen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das war auch bei mir der Fall, ich bin ja Bergführer geworden. Man wird dann aber von der Realität eingeholt in diesem Beruf. Er bedeutet harte Arbeit. Man will den Gästen nur das Beste bieten. Da ist man stets auf einer Gratwanderung zwischen zu viel wagen, weil die Erwartungen gross sind, oder zu wenig unternehmen, weil man die Sicherheit zu hoch einschätzt. Den richtigen Weg zu finden ist nicht einfach.
Woher kommt Ihre Faszination für die Berge?
Das wurde mir von den Eltern in die Wiege gelegt. Ich denke aber, dass ich die Faszination für die Natur schon immer in mir getragen habe. Das hat sich bis heute durchgezogen. Auch wenn ich nun tagein, tagaus Büroarbeit mache, bin ich am liebsten draussen. Ich erinnere mich noch an Wanderungen mit meinen Eltern im Wald oder in den Bergen. Damals mussten wir noch mit Karte und Kompass den richtigen Weg suchen. Die Zeit ist noch sehr lebendig in mir. Es ist etwas Wunderbares, dass wir in unserem Land in relativ kurzer Zeit so unterschiedliche Landschaften und Jahreszeiten erleben können.
An welche Momente erinnern Sie sich besonders?
Das waren immer die Momente, wo wir in die weite Ferne schauen konnten. Einmal wanderten wir über alle Juraketten in Richtung Norden. Es war damals für mich unverständlich, warum wir jeden Tag so viel gehen mussten. Gleichzeitig war ich fasziniert von der Wanderung. Ich hüpfte jeweils freudig herum vor den Hütten und Felsen, wo ich als Kind hochklettern durfte. Das Familienerlebnis als Ganzes mit einem Ziel am Ende einer mehrtätigen Tour – das hat mich bis zum Schluss getragen und trägt mich heute noch.
Schafft das auch eine Verbundenheit zur Schweiz?
Ich habe mir einmal vorgenommen, nicht ins weite Ausland zu gehen für den Sport. Ich habe die weiten Reisen nie gesucht und bei uns im Jura und in den Alpen die Natur gefunden, wie ich sie so nah wie schön erleben kann. Daher bin ich schon stückweit verwurzelt und heimatbezogen. Es tut wohl im Herzen, wenn man von einer Reise zurückkommt und die Silhouette des Jura sieht – man weiss, wo man hingehört.
Wie sehr beschäftigt Sie der Gletscherschwund?
Er beschäftigt mich sehr stark und schmerzt im Innersten. Wenn man oft in den Bergen unterwegs ist, kann man hautnah erleben, wie sich die Gletscher stetig zurückziehen. Es ist unglaublich, wie viel weiter man heute gehen muss, um tatsächlich an einen Gletscher zu gelangen.
Erzählen Sie.
Erst kürzlich war ich bei der Bordierhütte im Wallis. Dort ist es frappant, wie der Gletscher in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Es steht dort noch ein Gletschertor, das gar kein richtiges Gletschertor mehr ist, sondern eher ein Triumphbogen aus Eis überdeckt mit Geröll. Der Gletscher ist so weit zurück, dass man mehr Befestigungen am Felsen braucht, um überhaupt zur Hütte zu kommen. Wenn es so weitergeht, dann verschwinden Mitte Jahrhundert die kleineren und mittleren Gletscher ganz von der Bildfläche, und auch die grossen, wie der Aletschgletscher leiden enorm unter der Erwärmung. Auch sie wird es bis Ende Jahrhundert kaum mehr geben.
Was löst das in Ihnen aus?
Es tut sehr weh, das mitzuerleben. Was unter den Gletschern hervorkommt ist nicht geeignet fürs Bergsteigen. Es ist auch nichts Schönes und nichts Solides. Der Gletscher stabilisiert beispielsweise die Seitenwände des Tals. Wir erleben das bei unserer Mutthornhütte im Berner Oberland. Sie steht auf einem Felsen vom Gletscher umgeben, angelehnt an das Mutthorn. Wenn sich der Gletscher dort zurückzieht, nimmt der Druck auf das Gestein ab. Deshalb sind wir dort am Messen, ob und wie sich der Fels bewegt. Wir sind aber guter Dinge, dass die Hütte auf einem gesunden Felsen steht und noch sehr lange dort bleiben wird. Alles drum herum ist eher gefährdet. Wohl auch die grosse Terrasse, wo man draussen sitzen und den Ausblick auf die Jungfrau und die anderen schönen Berge geniessen kann.
Worin genau besteht dort die Gefahr?
Letztes Jahr erst gab es einen Felssturz seitlich der Terrasse, wo recht viel Material abgebrochen ist. Es könnte noch schlimmer werden, weil die Instabilität auf die Dauer eher zunimmt. Und dagegen kann man nicht viel machen, man ist diesem Phänomen völlig ausgeliefert.
Am Wochenende vom 22. August war das 125-jährige Jubiläum der Hütte. Zweifeln Sie daran, dass sie nochmals so alt wird?
Eine Prognose auf so weite Zeit hinaus ist sehr vage. Wenn die Gletscher so stark zurückgehen, wie wir das heute befürchten müssen, dann wird es schwierig, dass die Hütte nochmals so lange bestehen bleibt. Auch wenn, wäre es nicht mehr dieselbe Hütte und dasselbe Erlebnis. Es wird einem schwer fallen, dann noch romantisch zu werden, wenn nur noch eine Steinwüste da ist.
Was ist Ihre grösste Angst: Die steigenden Gefahren oder das schwindende Erbe für die nächsten Generationen?
In meinem reifen Alter ist es kein Problem für mich, damit umzugehen. Es ist klar, dass man nicht mehr dieselben Touren unternehmen kann, wie früher. Aber es tut einem schon weh, wenn sich eine schöne Flanke ohne Firn und nur noch schwarz präsentiert. Nicht nur der Anblick dieser Berge, auch deren Begehung macht keine wahre Freude mehr. Vor allem, wenn man noch in Erinnerung hat, dass die Alpen einst Schneeberge mit vielen glitzernden Bergspitzen waren.
Können Sie sich Bergsport ohne Eis überhaupt noch vorstellen?
Selbstverständlich kann man auch ohne Eis Berge besteigen. Das Eis und der Firn aber geben den Bergen nicht nur ein schönes Antlitz, sondern auch eine weitere, eindrückliche Dimension, die den Reiz des Bergsteigens ausmacht. Es ist auch immer wieder schön, wenn man auf Skitouren im späten Frühling alle Jahreszeiten an einem Tag erleben kann. Das ist sehr eindrücklich. Wenn das nicht mehr möglich ist, wie in der letzten Zeit im Jura und Teilen der Voralpen, ist das, wie wenn der Winter als Jahreszeit herausbricht. So fehlt die Vorfreude sowohl auf den Winter mit seiner Stille aber auch auf den Frühling mit dem Wiedererwachen der Natur. Für einen Generalisten am Berg ist diese Vorstellung fast nicht auszuhalten. Und nur noch in Romantik von der Erinnerung leben geht ja auch nicht.
Die nächste Generation wird also etwas verpassen.
Sie verpassen die eigentliche Bergwelt mit Firn, Gletscher und Schnee. Sie werden nie erfahren, wie es ist, eine klassische Hochtour zu begehen und die Blüemlisalp mit Pickel und Steigeisen zu überschreiten. Das werden sie nur noch in Büchern lesen oder in Filmen sehen können. Die Erlebnisse langer Hochtouren werden immer schwieriger realisierbar.
Der Zentralverband der SAC unterstützt die Gletscherinitiative, welche die CO2-Emissionen bis 2050 auf Null bringen will, daher ja mit eigenen Projekten. Unterstützen auch Sie und die Sektion Weissenstein die Klimaziele?
Ja. Es braucht jetzt wirklich entsprechend extreme Massnahmen und Ziele, um das Schlimmste zu verhindern. Wir in unserer Sektion haben uns schliesslich ebenfalls dazu durchgerungen, bei dieser Diskussion mitzumachen und die Entscheidung gefällt, die Ziele umzusetzen.
Gerungen?
Es war selbstverständlich nicht so einfach bei 1800 Mitgliedern in der Meinungsbildung betreffend unserer Haltung zur Gletscherinitiative einen Konsens zu finden. Wir haben lange an unseren Versammlungen diskutiert und dann aber grossmehrheitlich beschlossen, die Initiative zu unterstützen.
Welche Diskussionen wurden geführt?
Es gab Stimmen gegen die Unterstützung der Gletscherinitiative, weil wir in den Statuten politische Neutralität verankert haben. Für die uns direkt betreffenden Anliegen dürfen wir uns aber selbstverständlich auch politisch engagieren. Andere Stimmen zweifelten am Ziel. Es sei unrealistisch. Insbesondere auch in Sachen öV.: Bis anhin war es dem Tourenleiter völlig frei, wie er seine Tour und insbesondere An- und Rückreise organisieren will. Mittlerweile wird als erstrebenswert erachtet, den öV zu nutzen. Der zustimmende Entscheid hat damit im weitesten Sinne auch unsere Vereinskultur verändert.
Es sind ja nicht nur die Touren und die Anfahrtswege, die CO2 verursachen. Auch die aufwändig produzierten Kleider und die ganze Ausrüstung hinterlassen einen Fussabdruck. Ist das kein Widerspruch zum Alpinismus?
Wir können uns für die Natur einsetzen, weil wir die Natur kennen. Damit wir sie kennen, besuchen wir sie. Damit wir sie überhaupt besuchen können, brauchen wir Unterkünfte, Verpflegung und Ausrüstung. Da sind wir Konsumenten, die Produkte einkaufen, um unsere Leidenschaft ausüben zu können. Nichts machen wäre tatsächlich viel besser ist aber keine Alternative. Es ist aber wichtig, die Mitglieder zu sensibilisieren, nachhaltig einzukaufen und weg von kurzen Ausflügen zu kommen. Sie bedeuten immer auch lange An- und Rückreisen nur für ein schnelles Erlebnis. Gemächliche lange Touren machen den Unterschied. Es ist ein langsames, andächtiges Begehen der Berge, um deren Wesen zu verinnerlichen, was uns immer wieder hilft, die nötige Motivation für den Alltag zu schöpfen.
Es ist in dieser Hinsicht aber schon eine egoistische Sportart.
Man muss weit suchen, um eine Sportart zu finden, der nicht egoistisch ist, aber es ist tatsächlich so, vor allem wenn wir an Solo-Begehungen denken. Im Alpenclub aber sind wir aber in Gruppen unterwegs. Kameradschaft ist uns sehr wichtig. Bei uns herrscht Teamgeist oder wie wir ihn nennen der «Weissensteinergeist».
Was würde der Schweiz ohne den SAC und dessen Sektionen fehlen?
Die organisierte Kompetenz zum Bergsteigen in all dessen Facetten, gute Unterkünfte und
eine wichtige Interessengruppe, die sich lokal, regional, national und international dafür einsetzt, dass jeder, der Berge besteigen oder wandern will, dies weiterhin tun kann. Das heisst, wir setzen uns für den freien Zugang zur Natur ein, ohne dabei den Schutz dieser Natur aus den Augen zu verlieren.
Wohin führt Sie Ihre nächste Reise?
Im Herbst zum Klettern in den Alpstein.