- Gülpinar Günes
«Die Arbeit mit Kindern fehlt mir»: Die Frau an der Spitze der Reformierten Kirchen im Interview

Haben Sie als Kind jemals den Religionsunterricht geschwänzt, Frau Pörksen? Ich mag mich nicht mehr so gut erinnern. In der Oberstufe habe ich sicher mal geschwänzt, aber nicht nur den Religionsunterricht, sondern auch andere Lektionen. Ich war damals Schulsprecherin und hatte das Recht, bestimmte Stunden nicht zu besuchen. Vor allem Physik habe ich geschwänzt, das war langweilig.
War Ihnen Religion damals noch nicht so wichtig? Doch. Sie war mir immer wichtig. Ich habe als Schülerin in einer Kirchgemeinde Orgel gespielt und die Kirche schon immer faszinierend gefunden. Ich wollte herausfinden, was die unsichtbaren Welten sind. Vieles im Leben kann man ja nicht selber entscheiden: Wo man geboren wird oder wo man stirbt beispielsweise. Unser Leben ist geprägt von diesen Momenten und das fasziniert mich noch immer.
Wie hat Ihnen die Religion dabei geholfen? Die Gespräche darüber, was wirklich wichtig ist im Leben, begleiten mich bis heute. Die Fragen, was unser Leben ausmacht und was ein erfülltes Leben bedeutet, beschäftigen mich immer noch. Geld beispielsweise braucht man zwar zum Leben, aber es macht ein Leben nicht reich und glücklich. Es sind ganz andere Dinge, die das Leben erfüllen.
Die wären? Beziehungen oder gute Gespräche. Wenn ein Gespräch gelingt, dann erfüllt das einem mit Freude. Eine Frage, die ich mir dabei stets stelle ist: Wie kann ich mit meinem Verhalten die Welt um mich herum zum Guten verändern? Das ist eine Glaubensfrage. Ganz nach dem Motto: Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
Wie arbeiten Sie an dieser Frage? Ich denke, dass wir als Kirche aktiver werden müssen beispielsweise für den Klimawandel. Die Bewahrung der Schöpfung ist ein altes Thema, das stets präsent ist. Aber jetzt im Rahmen des Klimawandels umso wichtiger. Dort müssen auch wir innovative Wege gehen.
Warum sind sie Pfarrerin geworden? Ich habe zuerst angefangen Jus zu studieren. Aber das Thema der Gerechtigkeit war für mich besser in der Theologie aufgehoben. Im Jus-Studium lernt man die Anwendung der Gesetze auf die Fälle. Aber mich faszinierte die Frage, was eigentlich Gerechtigkeit ist und wie man einem Menschen gerecht wird. Das ist eine theologisch-philosophische Frage. Dann habe ich mein Theologie-Studium begonnen. Aber ich war sicherlich auch vom Elternhaus geprägt: Ich wuchs in einem Pfarrhaus auf.
Sie haben mal gesagt, dass man die Kirchgemeinden als Orte der Begegnung stärken muss. Wie haben Sie als Pfarrtochter diese Begegnungen erlebt? In der Gemeinde, in der ich aufwuchs, gab es Kindertage, die speziell für uns Kinder organisiert wurden. Da gab es jeweils zuerst eine gottesdienstliche Feier. Danach konnten wir in einem grossen Park spielen und singen. Das hat mir damals total gefallen und mich auch sehr geprägt. Als ich selber Pfarrerin wurde, gab es wenige solcher Aktivitäten für Kinder und Familien in meiner Gemeinde. Darum habe ich beispielsweise mit Kinderbibel-Tagen begonnen. Die Kinder erarbeiteten dort im Rahmen von Workshops, Spielen und Ateliers eine biblische Geschichte. Das kam super an.
Sie strahlen wenn Sie dies erzählen. Vermissen Sie als Synodalrätin und bald Synodalratspräsidentin diese Begegnungen mit den Menschen? Die Arbeit mit den Kindern fehlt mir tatsächlich. Mit Kindern etwas zu machen finde ich das Schönste. Diese Gelegenheit fehlt mir heute. Wenn ich nicht zur Präsidentin gewählt worden wäre, dann hätte ich sicherlich ein Teilzeit-Pfarramt übernommen, wo ich mit Kindern zu tun gehabt hätte.
Sie haben also Ihre Leidenschaft gegen mehr Macht eingetauscht. Ich habe ja nach wie vor mit Menschen zu tun. Eine meiner wichtigen Aufgaben ist die Beziehungspflege mit den Kirchgemeinden, mit den Kirchen anderer Kantone und Konfessionen, mit Politikerinnen und Politikern. Zum Thema Macht: Eine kluge Frau hat mir einmal gesagt «Macht heisst, andere zu ermächtigen», also andere zu stärken. Sicher muss ich in meiner neuen Position, wenn es zu Konflikten kommt, auch einmal unangenehme Entscheidungen fällen. Für viele bin ich dann eine Projektionsfläche der Kirche.
Sprechen Sie aus Erfahrung? Eine Person hat sich kürzlich darüber beschwert, dass wir als Synodalrat uns beim Bundesamt für Gesundheit nicht mehr dafür eingesetzt haben, dass Gottesdienste früher stattfinden dürfen während des Lockdowns. Aber es war nicht einfach zu entscheiden, ab wann sich die Leute wieder treffen können und welche Schutzmassnahmen das benötigt.
Geht Ihnen solche Kritik nahe? Ja, das geht mir schon nahe. Aber Ich muss es dann auch beiseitelegen. Ich bin offen für Kritik. In der Bibel heisst es so schön: Prüft alles, behaltet das Gute. Kritische Anregungen sollte man sich anhören und sich Gedanken darüber machen, ob sie berechtigt sind. Danach muss man sich aber entscheiden und seiner Linie treu bleiben.
Macht es da einen Unterschied, dass Sie eine Frau sind? Angela Merkel beispielsweise hat nach dem Kraftwerksunglück in Fukushima eine innere Wende durchgemacht und dies öffentlich begründet. Das habe ich damals als eine Stärke erlebt. Ich kann mir vorstellen, dass man als Frau emotionaler involviert ist und eher die Stärke hat, auf eine bestimmte Situation einzugehen. Aber ob das Männer grundsätzlich nicht machen, kann ich nicht sagen, das will ich ihnen nicht unterstellen. Aber ich denke schon, dass für Frauen die Beziehungsebene sehr wichtig ist.
Was bedeutet es für Sie, als erste Frau zur Präsidentin des Synodalrates gewählt worden zu sein? Ich betrachte die Wahl als eine Wertschätzung aller Frauen, die sich ehrenamtlich in der Kirche engagieren. Die Wahl ist ein positives Zeichen für sie und ich finde es toll, dass unsere Synode dieses Zeichen gesetzt hat.
Haben Sie das Amt bewusst als Frau angestrebt? Für mich hat es schon eine Rolle gespielt. Als Frau tendiert man dazu zu sagen «das soll doch jemand anders machen». Bisher wollte noch keine Frau das Amt übernehmen. Und jetzt ist es an der Zeit, dass es eine tut. Ich glaube ausserdem nicht, dass ich eine Alibifrau bin. Die Synode hätte mich nicht gewählt, wenn ich inhaltlich nicht überzeugt hätte mit meinem Legislaturprogramm.
Wie wollen Sie die Kirche als Begegnungsort stärken? Ich glaube, dass viele Leute einfach ein negatives Bild von der Kirche haben. Vielfach kennen sie sie auch nicht mehr. Da prägt auch die Geschichte der Kirche als grosse Machtinstitution das Bild sehr mit. Ich will dafür sorgen, dass die Leute wiederentdecken, was wir alles machen und dass wir als Kirche mehr auf die Leute zugehen. Es gibt die verschiedensten Wege, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen.
Werdegang
Judith Roder-Pörksen (57) ist in der norddeutschen Ortschaft Handewitt nahe der dänischen Grenze aufgewachsen. Als Tochter eines Pfarrers und einer Lehrerin erlebte sie das kirchliche Leben hautnah. Nach einem abgebrochenem Studium in Rechtswissenschaften beginnt sie 1984 ihr Theologiestudium in Berlin und Bern und wird 1994 Pfarrerin in Bern-Bümpliz. Seit 2019 ist sie als Synodalrätin bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn tätig und wurde diesen Sommer zur Präsidentin des Synodalrates gewählt. Sie ist die erste Frau in diesem Amt.